Der Arzt und Schriftsteller Peter Weibel zum Jahrhunderthochwasser 1999:
(publiziert mit der freundlicher Genehmigung des Autoren, erschienen im BERNER ALLTAG vom 22.4.2000, Der Bund
Im Fluss, damals
Eigentlich müssten wir ihm auch dankbar sein, dem Fluss. Und ich meine nicht nur die Handwerker, denen er Arbeit hergeschwemmt hat, ich meine sogar die, die unter ihm gelitten haben, und ich weiss, dass das auch ungerecht ist.
Es ist nun bald ein Jahr her, dass er gekommen ist, sich als trübe Flut durchs Mattedorf gewälzt hat. Zuerst haben wir ihn fast übermütig begrüsst, haben Sandsäcke wie Trophäen geschwungen, später ist uns das Lachen vergangen. Wie schnell das Abenteuer in blanken Schrecken umkippen kann, hat Ruth Margot in ihrem Überschwemmungs-Tagebuch «Im Fluss» beschrieben: das Vertraute kann über Nacht wegschwimmen; ICH BEFINDE MICH AUF EINEM FREMDEN PLANETEN.
Ich sehe auf die Fotografien des Buches, gehe mit ihnen nochmals zurück: die Kähne in Matte-Venedig, die Umarmung von Mutter und Kind auf Sandsäcken, die Tischrunden unter den Lauben, im Wasser: Bilder des Widerstandes, des Weiterlebens im Dennoch. Ich möchte dem Fluss nachtragen, dass wir ihm auch dankbar sein können. Und ich denke dabei nicht an die falsche Romantik, nicht an die Poesie des Schreckens, die nur so lange geht, als sie den Schrecken auf sichere Distanz hält: Ich denke an die Verbundenheit unter Menschen, die mit dem Fluss, mit dem Wasser hergekommen ist: unter die Lauben, auf die Tische draussen, die immer gedeckt waren, immer Gäste aufgenommen haben zur Hochwasserzeit.
Im anderen Überschwemmungsbuch «Das Jahrhunderthochwasser» haben Rosmarie Bernasconi und Peter Maibach das Wort ZAUBERWASSER geprägt: Sie haben den Zauber der Begegnung im Wasser, DURCH das Wasser gemeint.
Wir sind nicht aneinander vorbeigegangen, wir sind stehen geblieben, haben die Begegnung gesucht. Wenn wir gefragt haben, wie geht es dir?, haben wir gemeint: Ich bin in Sorge um dich. Es hat Begegnungen gegeben, die es ohne das Wasser nicht gegeben hätte: beim Sandsacktragen, beim angstvollen Blick zu den Schwellen; bei Res Margots Alphornklängen, mit denen er den Fluss herausgefordert hat.
Und heute, ein Jahr danach? Die Wohnungen, die Geschäfte sind saniert, mit mehr oder weniger Perfektion saniert; es gibt Unterschiede (der Fluss hätte keine Unterschiede gewollt). Wir bleiben nicht mehr stehen, wenn wir aneinander vorbegehen. Wir können uns wieder streiten über die Verkehrsregelungen, über den Lärm (er ist unschön); die Probleme sind nach der Rückkehr von Ruhe und Ordnung die alten geblieben, auch wenn ein Satz die Runde gemacht hat vor einem Jahr: In der Matte wird nichts mehr sein, wie es war.
Manchmal, in bösartigen Stunden, möchte ich den Fluss zurückrufen, für einen Tag nur, und möglichst gefahrlos: um die Hierarchie der Werte wieder neu zu gewichten. Und um an die Verbundenheit zu erinnern. Aber ich nehme mir die falschen Wünsche selbst übel, ich höre den Fluss rauschen und weiss: Er braucht keine Wünsche, um wiederzukommen.